Und plötzlich versteht keiner mehr ein Wort

"Es ist doch immer wieder eine Freude", sagte ich zu meinem Freund Eduard, "die ersten Galanthus zu sehen. Auch Leukojum blüht schon, und der Eranthis begrüßte uns ja schon im Februar." "Tatsächlich?" fragte Eduard mit dem verlegenen Lächeln, das man so hat, wenn man etwas nicht versteht. "Bei Muscari", schwärmte ich, "liebe ich besonders die zarte tubergenianum und die stark duftende Muscari moschatum." "Sag bloß", sagte Eduard. "Na, und eine Pracht ist doch Scilla, vor allem die Art Endymion hispanicus - da müssen wir aber bis zum Mai warten." "Ich halte es vor Ungeduld kaum aus", sagte Eduard. "Aber würdest du einem armen Unwissenden vielleicht freundlicherweise erklären, von wem oder von was du eigentlich redest?" "Das weißt du nicht?" tat ich erstaunt, "das sind Frühlingsblumen!" "Sagtest du Frühlingsblumen?" "Genau. Das waren der Reihe nach Schneegloeockchen, Knotenblume, Winterling, Traubenhyazinthe und der Blaustern." "Aha. Und warum sagst du das nicht in einem vernünftigen Deutsch? Ich bin ja schließlich kein Gärtner." "Ich passe mich nur an. Du redest doch dauernd von Events und Casting und Catering, von Open-Air und Smalk und Talk und Retro-Look und Performance und Memorysticks und Scratch-Time, von Kids und Horses und Brainpower und Notebooks und Date und Shopping und Drinks und und und - warum sagst du das nicht in einem vernünftigen Deutsch? Ich bin schließlich kein Amerikaner." Er erklärte mir, weil das doch international und so ist, damit man uns auch im Ausland versteht, ich sagte, wichtiger wäre es, daß man sich im Inland versteht, er meinte, ich meinte - Unsere Hoffnung: Daß die deutsche Sprache mit einem Blue Viola, also einem blauen Veilchen davonkommt.
Hans-Joachim Riegenring, in: Wohnen in Berlin / Brandenburg, Nr. 5 / 6, Mai / Juni 2001, S.23

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